Das politisch-philosophische Denken der Gegenwart steht im Zeichen einer erneuten Diskussion des Theologisch-Politischen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Rückbesinnung auf die Briefe des Völkerapostels Paulus. In den letzten beiden Jahrzehnten sind erschienen: Jacob Taubes, Die Politische Theologie des Paulus (1993); Alain Badiou, Saint Paul – La fondation de l’universalisme (1997); Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (2000); Slavoj Zizek, Das fragile Absolute. Warum es sich lohnt, das christliche Erbe zu verteidigen (2000); Jean-Claude Milner, Le Juif de savoir (2006); Slavoj Zizek, Kenneth Reinhard, Eric L. Santner, The Neighbor: Three Inquiries in Political Theology (2006); Jean-Michel Rey, Paul ou les ambiguïtés (2008).
Die Studien verfolgen unterschiedliche Ziele. Badiou und Zizek entdecken in Paulus sowohl den Stifter des modernen Universalismus als auch den (vorbildlichen) Gründer einer anti-imperialen „ecclesia militans“; Jacob Taubes stellt Paulus in den Kontext der jüdischen Apokalyptik und rekonstruiert das christlich-jüdische Eifersuchtsverhältnis als Strukturmoment der abendländischen Geschichte; Giorgio Agamben sieht in Paulus den Exponenten einer „schwachen“ Kraft des Messianismus, die keine neue, andere Welt auf den Ruinen der zerstörten alten errichtet, sondern das „schema tou kousmou“ de-aktivert, als Ende der Welt in der Welt; Milner und Rey schließlich erblicken in Paulus den Urheber eines einfachen, allzu einfachen europäischen Universalismus, der darauf abzielt, historische Eigennamen und Besonderheiten „aufzuheben“, an erster Stelle den jüdischen Namen, um die Welt in eine egalitäre, ökumenische „Suppe“ (Milner 2006) zu verwandeln. De facto habe das 20. Jahrhundert „Paulus von Tarsus Punkt für Punkt widerlegt: Es gibt Herren und Knechte, Männer und Frauen, es gibt Juden, und es gibt keine Griechen mehr“.
Die unterschiedlichen Neulektüren entdecken die Gegenwart als nach wie vor gültige Adresse der Paulinischen Briefe. Drei zentrale Fragestellungen lassen sich in ihnen ausmachen:
Die Fragestellungen antworten auf Tendenzen und Konflikte der Gegenwart.
Der Versuch der Rückgewinnung einer universalistischen Perspektive richtet sich gegen einen modisch gewordenen Kulturalismus, der jeden politischen Streit um Gesellschaftsmodelle, Herrschaftspraktiken, Wissens- und Rechtsordnungen im Namen gegebener „Identitäten“, einschließlich der religiösen, verdrängt und die Individuen in ihrer jeweiligen, per definitionem bornierten Kultur gefangen hält.
Nicht mehr geht es um den Aufbau einer neuen Gesellschaft, die aus den Zwängen der Herkunft und überkommenen Gewalten befreien könnte, sondern nur mehr um die eifersüchtige Wahrung kultureller Identitäten und der entsprechenden Differenzen. Der Versuch, den geschichtlichen Ort der Gegenwart neu zu denken, richtet sich gegen ein (rechtshegelianisches) Denken, das nach dem Sturz des real existierenden Sozialismus die westlichen Demokratien, konkret: die Vereinigten Staaten von Amerika, zum „Nec plus ultra“ der Weltgeschichte erklärte und triumphal das „Ende der Geschichte“ verkündete.
Der Versuch schließlich, die Gegenwart erneut auf einen utopisch revolutionären Horizont hin zu öffnen, antwortet dem Verschwinden eines politischen Gegenmodells zum global agierenden Kapitalismus, der sich – einmal mehr – als unabwendbares Schicksal gibt. Es ist das Schicksal der Misere. „Das System des ökonomischen Liberalismus hält unsere Existenzen in egoistischen Individuationen gefangen, die jeden Horizont liquidieren und uns in ein doppeltes Elend stürzen: ‚Konsument’ oder ‚Produzent’ sein. Der Konsument arbeitet ausschließlich, um zu konsumieren, was seine in Ware verwandelte Arbeitskraft produziert hat; der Produzent produziert ausschließlich im Hinblick auf grenzenlosen Profit, um dann – phantasmatisch – grenzenlos konsumieren zu können. Das Ökonomische wird sich selbst zum Ziel und ‚vergisst’ den ganzen Rest.““Das Symposion möchte die drei genannten Problemfelder untersuchen:
Paulus lässt sich, je nach Lektüre, sowohl für als auch gegen die genannten Tendenzen in Anspruch nehmen. Man kann ihn, wie Milner, als Urheber des christlich-europäischen, allzu einfachen, anti-jüdischen Universalismus lesen, aber auch, wie Taubes und Agamben, als jenen jüdischen Autor, der den Messianismus in die Welt trägt. Er lässt sich als Denker der Schließung und der Öffnung von Geschichte begreifen, als Figur anti-imperialer Militanz und ökumenischer Ruhigstellung. Die historischen Pauluslektüren von Hegel, Victor Hugo, Comte, Renan, Nietzsche, Michelet, Harnack, Sohm, Barth oder Benjamin stellen die Unentschiedenheit eindringlich unter Beweis. In jedem Fall erweist Paulus sich als zentrale Gründungsfigur der westlichen Kultur.
Insgesamt soll für das Symposion die diagnostische Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion in der und für die Gegenwart leitend sein: