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In seiner einfachsten Version ging das Säkularisierungsparadigma von der Annahme aus, dass Gesellschaften – sowohl die westlichen als auch (und vor allem) die nicht-westlichen – mit zunehmender Industrialisierung und techno-wissenschaftlicher Rationalisierung sich in rein ‚weltliche’ Gesellschaften verwandelten.  

Im Zuge der Globalisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte, historisch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese Annahme – die der französische Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre bereits seit den frühen 1970er Jahren immer wieder als folgenschwere Verkennung der „dogmatischen“ Konstitution von Gesellschaften, insbesondere auch der westlichen, in Frage gestellt hat (Legendre 1972, 1975, 1978) - hinfällig geworden.

In kruder empirischer Evidenz hat sich gezeigt – von den pfingstkirchlichen Bewegungen in Nord- und Südamerika über die russische Orthodoxie bis hin zu den islamischen Bewegungen –, dass Industrialisierung und techno-wissenschaftliche Rationalisierung nirgendwo je zum Verschwinden der Religionen geführt haben, sondern dass die Religionen über eine bemerkenswerte Vitalität, Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft verfügen. Vom Verschwinden des Religiösen kann nirgendwo die Rede sein.

Durch dieses massive Nicht-Verschwinden ist zum einen erneut ins Bewusstsein gerückt, dass ‚Säkularisierung’ ein Begriff ist, der genuin zur römisch-christlichen Kultur selbst gehört und der sich deswegen auch nicht einfach und ungebrochen auf andere, nicht-westliche und nicht-christliche Kulturen – weder die islamische noch die jüdische, weder die japanische noch die chinesische – übertragen oder exportieren lässt. „Saecularizatio” ist ein terminus technicus des Codex Iuris Canonici (vgl. can 688 sq.), die Scheidung von Kaiser und Gott (vgl. Lk 20, 25), von civitas terrena und civitas Dei ist fundamentaler Bestandteil der christlichen Agenda. Andere Kulturen treffen andere Unterscheidungen.

Zum anderen hat sich die Vorstellung einer linearen, ‚säkularisierenden’ Entwicklung der Geschichte als unhaltbar erwiesen. Ihr zufolge wäre die letzte Stufe der historischen Entwicklung eine ‚rein menschliche’, ‚atheistische’ Gesellschaft – im Sinn der Geschichtsprophetien des 19. Jahrhunderts, von Hegel über Feuerbach und Marx bis zu Nietzsche und Max Weber. Für die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis der westlichen, insbesondere der kontinentaleuropäischen Industriegesellschaften waren diese Prognosen insofern von Bedeutung, als sie einen umfassenden geschichtsphilosophischen Rahmen zur Verfügung stellten, in dem der Modernisierungsprozess und der entsprechende ‚Fortschritt’ situiert werden konnten. Die Geschichte der Welt verfügte über ein Ziel.

Es ist kein Zufall, dass die Erschöpfung des Säkularisierungsparadigmas mit dem Sturz der kommunistischen Utopie Anfang der 1990er Jahre manifest geworden ist. Der Sturz führte nicht ans ‚Ende der Geschichte’, wie Francis Fukuyama unter Berufung aus Kojèves Hegel-Interpretation im Augenblick des vermeintlichen Triumphs verkündete, sondern er leitete umgekehrt das Ende genau jenes Geschichtsbegriffs ein, der solche ‚Enden’ glaubte noch einmal weltweit prognostizieren zu können. Auf dieses (Nicht-)Ende reagierte Samuel Huntington mit der These vom „clash of civilizations“, die zugleich auch den imperialen Anspruch des Westens auf ein „remaking of the world order“ neu formulierte. Der Historiker erkennt in der Formel eine alte pontifikale Wendung wieder: reformatio totius orbis.

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Ausgangspunkt für die Arbeiten des Forschungskollegs ist die Diagnose der historischen Verkennung der religiösen Signatur, die das Säkularisierungsparadigma trug. In seiner starken, universalistischen Version vermag es die insistierende soziale und politische Präsenz von Religionen in der industrietechnisch rationalisierten, globalen Moderne nicht zureichend zu erklären. Genauso wenig vermag es zu erklären, weswegen es mittlerweile selbst zur Zielscheibe intensiver religiöser Feindschaft geworden ist.

Historisch stellt sich die Frage, welche Verkennung der Religion(en) im Säkularisierungsparadigma der Moderne wirksam war: welche Unterschätzung religiöser Denkmuster und Legitimationsstrategien und welche Überschätzung des Politischen. Mit der Erschöpfung des Säkularisierungsparadigmas ist die geschichtsphilosophische Sicherheit des politisch vorangetriebenen ‚Fortschritts’ geschwunden, das heißt das teleologische, im Politikverständnis der letzten beiden Jahrhunderte zentrale Versprechen einer stetigen Entwicklung hin zum ‚Besseren’, das mit den geeigneten technisch-industriellen Mitteln und einer guten Administration oder, moderner ausgedrückt, einer ‚good governance’ tatsächlich zu realisieren wäre.

Mit der Schwächung des Fortschrittsglaubens ist eine der tragenden Legitimationen und sozialen Bindungskräfte des Politischen erschüttert, das gegenwärtig jener Enthusiasmen und Erlösungskredite beraubt zu sein scheint, die es – mehr oder weniger stillschweigend – von den Religionen übernommen oder von ihnen ‚geerbt’ hatte. Das Politische der Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass „die Staaten starke Anzeichen der Schwäche zeigen und unfähig sind, die überall manifest werdenden Gewaltpotentiale einzudämmen oder zu regulieren: soziale Ungerechtigkeiten, Exklusionen, Arbeitslosigkeit, Krise der Bildungssysteme, ökologische Krisen. Damit steht die politische Kohärenz der Industriegesellschaften in Frage.“ (Valadier 2007)

Ähnlich wie Jürgen Habermas konstatiert auch Paul Valadier einen bedrohlichen Schwächezustand des Politischen, und er stellt die deswegen noch einmal die Frage, ob nicht gerade der säkulare Staat eines religiösen Komplements, eines „supplément d’âme“ bedürfe, um diesen Legitimationsschwund aufzufangen. Dessen Symptome sind die Bildung so genannter ‚Parallelgesellschaften’, die Präsenz ‚rechtsfreier Räume’ oder ‚Zonen’ inmitten staatlicher Territorien, die Herausbildung transnational agierender, pseudo-staatlicher Gesellschaften und neuer Feudalismen (vgl. Supiot 2007).

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Unter diesen Bedingungen scheint es dringlich, das Verhältnis von Säkularisierung und Religion in der europäischen Moderne erneut zu analysieren und die religiösen Tiefenstrukturen und Traditionen in den Blick zu nehmen, die in ihr wirksam sind und waren. Für das Forschungskolleg „Gegenwelten“ ergibt sich daraus eine Reihe von Fragen:

  • Wie war (und ist) der ans Versprechen einer besseren Zukunft – oder an die Herstellung einer ‚societas perfecta’ – geknüpfte Gehalt des Politischen an die religiöse Konzeption der Geschichte als ‚Heilsgeschichte’ gebunden? Wie religiös (christlich) ist der lateinische Begriff der Gesellschaft selbst? Wie ist er abzugrenzen von polis, umma, Clan, Genossenschaft oder Stamm?
  • Wie lässt sich die (offenkundige) Verkennung oder Verdrängung des Religiösen im Säkularisierungsdenken seit der Aufklärung erklären? Wie gehören ‚Christentum’ und ‚Säkularisierung’ zusammen? Ist die Rede von Säkularisierung in nicht-westlichen Kontexten sinnvoll?
  • Ist das Politische denkbar ohne Bezug zur Idee des ‚Heils’ oder einer permanenten ‚Verbesserung’? Was wäre Politik, die auf die Dimension des ‚Heils’, des ‚Besseren’, des Nicht-Faktischen beziehungsweise dessen, was noch nicht ist, verzichtete?
  • Wo genau lässt sich in der Moderne, in ihren sozio-politischen und ökonomischen Ordnungsvorstellungen das „politische Begehren Gottes“ (Legendre) situieren?
  • Gibt es Politik ohne Bezug auf eine ‚andere’ Welt, eine ‚Gegenwelt’? Welche Aufgabe kommt in diesem Zusammenhang der Kunst zu? Was heißt in diesem Kontext „Autonomie“?
  • Warum vermochten die unterschiedlichen Theorien oder Konzeptionen der Säkularisierung (von Kant, Schiller, Goethe, Feuerbach bis hin zu Weber oder Habermas) das Problem der ‚politischen Theologie’ nie vollständig zu lösen?
  • Was verbindet den Vernunftbegriff der Aufklärung und der von ihm entbundenen Techno-Wissenschaft mit dem ‚Rationalismus’ des Christentums?
  • Welches religiöse Erbe tragen Verwaltungs- und Managementtheorien mit oder in sich?

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Ziel des internationalen und interdisziplinären Projekts ist die Verbindung gegenwärtiger intellektueller Positionen und Diskussionen mit geisteswissenschaftlichen historischen Analysen. Es geht um die Reformulierung der Säkularisierungsproblematik, die sich ihrer eigenen religiösen Voraussetzungen bewusst ist.

Nur in dem Maße, wie die genuin religiösen Einsätze deutlich werden, die mit den ‚westlichen’ Industrialisierungs- und Management-Programmen weltweit ausgespielt werden, können die Konflikte und Widerstände diskutiert werden, die mit deren Ex- und Import verbunden sind. Und nur mit Hilfe einer kulturwissenschaftlich erneuerten historischen Analyse der religiösen Ordnungsmodelle – in Politik und sozialen Institutionen, in Kunst und Ökonomie, in Rechts- und Raumordnungen – werden die Probleme sichtbar, die in den gegenwärtigen Beziehungen zwischen den Kulturen virulent sind.

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