zur Startseite
Suche:
www.lmu.de  |  Fakultät 13  |  Sitemap  |  LMU-Portal
print

"Prolog im Himmel, eine Zeit in der Hölle" - Religiöse Referenzen ästhetischer Form

Das Forschungskolleg Gegenwelten geht seit drei Jahren der Frage nach, auf welche Weise Religion beziehungsweise religiöse Vorstellungen in der säkularen Moderne – in Politik, Ökonomie und Ästhetik – ungebrochen präsent sind. In Zweifel gezogen ist damit die Annahme, Politik, Wirtschaft, Kunst seien still in sich ruhende, autonom ausdifferenzierte Reiche, die mit Himmel und Hölle nichts mehr zu tun hätten.

Früher, so die nach wie vor gängige Doxa, habe Religion in der Politik oder in der Kunst eine Rolle gespielt. In der emanzipierten Moderne sei sie nur noch für unaufgeklärte, verlorene Seelen, Grabreden, Taufen und dergleichen zuständig, auf keinen Fall für Unternehmenslogistik, Steuergesetzgebung und literarische Erzählmuster. An genau dieser Stelle meldet das Kolleg Zweifel an: Haben staatliche Steuern, die Geschäftsform des „Trust“ oder der literarische Realismus tatsächlich nichts (mehr) mit Religion zu tun? Sind die säkularen Vitrinen denkbar ohne die religiösen Hinterräume, in denen die Konzepte des Staates, des Kredits, der „societas perfecta“ oder der bescheidenen Redeform, des „sermo humilis“ fabriziert worden sind? Ist „Subsidiarität“ denkbar ohne die Synode von Emden, ohne Papstenzyklika, ohne theologische Begründungs- und Rechtfertigungsfiguren?

Das Kolleg geht diesen Fragen nicht aus akademischer Langeweile nach, sondern deswegen, weil ein bestimmtes Säkularisierungsdenken in den letzten Jahrzehnten zusehends unhaltbarer geworden ist: die Annahme nämlich, dass die Welt sich mit der Zeit immer weiter von religiösen Vorstellungen entfernen würde und dass die objektive, rationale Wissenschaft Probleme wie Alter, Liebe, Gewalt, Ernährung, Tod, Macht technisch lösen und uns davon erlösen könnte. Nicht mehr mit Riten und Worten, sondern mit Molekülen und Maschinen. Industrie, Wissenschaft, rationalisiertes Management würden sämtliche religiöse Vorstellungen nach und nach in Folklore verwandeln, und überall dort, wo die Techno-Wissenschaft Einzug hielte, würden alle altertümlichen Götter wie von selbst verschwinden.

 

Am schönsten, nämlich im Ton des Psalters, hat Bertolt Brecht den techno-wissenschaftlichen Gottes- und Jenseits-Beseitigungstraum vor zweiundachtzig Jahren besungen. Im Radiolehrstück Ozeanflug aus dem Jahr 1929 heißt es: 

 

Wenn ich fliege, bin ich

Ein wirklicher Atheist

 

Zehntausend Jahre lang entstand

Wo die Wasser dunkel wurden am Himmel

Zwischen Licht und Dämmerung unhinderbar

Gott. […] Das Licht [aber]

Zeigt Leere und

Verscheucht ihn sofort.

 

Darum beteiligt euch

An der Bekämpfung des Primitiven

An der Liquidierung des Jenseits und

Der Verscheuchung jedweden Gottes, wo

Immer er auftaucht.

 

Unter den schärferen Mikroskopen

Fällt er.

Es vertreiben ihn

Die verbesserten Apparate aus der Luft.

Die Reinigung der Städte

Die Vernichtung des Elends

Machen ihn verschwinden und

Jagen ihn zurück in das erste Jahrtausend.

 

Die Zuversicht des Aufbruchs, das Vertrauen in die befreite Zukunft und die furchtlose Militanz der Psalmenverse sind auch ein Menschalter später noch hinreißend. Merkwürdig antiquiert klingt lediglich ihr Gehalt. Brecht lag mit seiner Gottes-Vernichtungs-Prognose sozusagen fulminant daneben.

Spätestens beim Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat noch die letzte Rest-Gemeinde der Fortschrittssoldaten, die an den Tod Gottes durch die Perfektionierung von Luftwaffe und Stadtreinigung glaubte, sich selbst aufgelöst. Eingetreten ist stattdessen das, was Francis Fukuyama das „Ende der Geschichte“ genannt hat, allerdings nicht ganz in dem Sinn, den Fukuyama sich vorgestellt hatte: dass nach dem Ende des Kommunismus das technologisch triumphierende Amerika die richtige Endhaltestelle der Welt-Geschichte wäre. Daran glaubt mittlerweile auch niemand mehr. „Ende der Geschichte“ heißt vielmehr, dass jede Gewissheit darüber verloren ist, in welche Richtung und auf welches Ziel hin die ökonomischen, politischen, sozialen Prozesse dieses Planeten zulaufen werden. Die Vorstellung, dass die aufgeklärte, westlich-wissenschaftliche Menschheit unangefochten an der Spitze der Welt-Geschichte marschierte und alle anderen ihr folgen müssten, hat sich zerstreut.

Genauso zerstreut hat sich der Glaube ans Verschwinden der Religionen. Erstens haben die Religionen den Apparatebau der letzten Jahrhunderte schadlos überstanden; sie sind von beeindruckender Vitalität. Weder der Vatikan noch die Church of England, weder der Islam noch der Hinduismus stehen vor ihrer Selbstauflösung. Zweitens stellte sich heraus, dass die Vorstellung von der immer säkularer werdenden Welt selbst ein religiöses, sich allerdings selbst verkennendes Dogma war: das Dogma der aufgeklärten, post-religiösen, euro-amerikanischen Christenheit nämlich, ob nun in der roten Brecht- oder der kalifornischen Fukuyama-Variante. Es war Verkennung zu glauben, man habe das Religiöse und Christliche lang schon hinter sich gelassen, nur weil man den Sonntagsgottesdienst schwänzte, unkeusch und habgierig war. Ohne christliche Eschatologie fällt der ganze schöne Fortschritts-, Entmythologisierungs- und Säkularisierungszauber in sich zusammen.

Entsprechend überrascht war die säkulare Christenheit, als sie aus dem Mund indischer Moslems hören musste: „secularism is christian“, auf Deutsch: „Euer Säkularismus, Atheismus inklusive, macht euch noch lange nicht zu Nicht-Christen.“ Plötzlich begann selbst den standhaftesten Laizisten zu dämmern, dass die Nicht-Christen in Ouagadougou, Mumbai oder Kabul vielleicht doch etwas anderes im Sinn haben als das fortschreitende Säkular-Werden der Welt und dass sie sich auch den Gang der Geschichte eventuell anders vorstellen, jedenfalls nicht so, dass sich am Ende alle in Euro-Amerikaner verwandelt hätten: weiß, säkular, individualistisch, liberal, aufgeklärt, rational, tolerant, egalitär. Aus einer afghanischen Perspektive klingt die Adjektiv-Reihe nicht unbedingt nach Erfolg und Glück.

 

Provinziell handgreiflich geworden ist das Brüchigwerden des Säkularisierungsdenkens nicht zuletzt auch in den hiesigen Integrations-, das heißt: Islam-Debatten. Glaubte man früher – und das ist auch der Grund, weswegen wir mit einer Lesung Feridun Zaimoglus beginnen wollen –, dass die historisch ziemlich zurückgebliebenen Türken sich im Lauf der Zeit automatisch in aufgeklärt christliche Deutsch-Europäer verwandeln müssten, so neigt man inzwischen eher zu der Annahme, dass sie das vermutlich nicht tun werden. Trotz aller Belehrungen wollen sie partout nicht lassen von ihrer Religion, ihren Heiratsregeln und vorsintflutlichen Geschlechterstereotypen. Sie wollen einfach nicht säkular werden, das heißt: den Koran nur noch als schöne Fiktion betrachten, gleichberechtigt neben Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Rushdies „Satanischen Versen“, sich über Mohammed-Karikaturen kaputt lachen, die Scharia umstandslos gegen das BGB eintauschen, aufhören mit Ramadan und Schächten, Zuchttüchern und Gebeten.

Wir werden die Büchse der Integrationsdebatte nicht aufmachen und die Suppe der verkochten Clichés nicht noch einmal aufwärmen. Soviel sollte allerdings unstrittig sein: dass das Problem nicht einfach nur bei denen liegt, die immerzu integriert werden sollen (ohne dass man wüsste, wer genau das im Einzelnen ist und in was genau da eigentlich integriert werden soll), sondern dass es vor allem auch bei denen liegt, die mit ihren indigenen Gesellschafts-, Nationalstaats- und Religionsvorstellungen – als gäbe es weder Flugzeuge noch internationale Telefonverbindungen – seit ein paar Jahrzehnten beharrlich gegen die Wand aller sozialen, religiösen, medientechnischen und ökonomischen Realitäten fahren. Anders gesagt, die Islam-Debatte hat viel weniger mit dem Islam als mit der zunehmenden Irrealität deutscher Nation- und Gesellschaftsvorstellungen zu tun, in denen sind Fremde nicht vorgesehen sind – noch nicht einmal dann, wenn es sie tatsächlich gibt und wenn sie Deutsche sind wie alle anderen auch.

Man kann den Sachverhalt kürzer formulieren: Nicht Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ war 1995 eine irre Fiktion des Deutschen, sondern irre fiktiv war die Vorstellung einer homogenen deutschen Gesellschaft und die Idee, dass die Türken – die Ottomanen, Kanaken, Islamisten, Ausländer – entweder demnächst alle wieder nach Hause fahren oder aber sich nach Schichtende zu Bildungsbürgern des 19. Jahrhunderts mausern würden, bei einem Gläschen Mosel vertieft ins Studium der Prosa Wilhelm Raabes und von Luthers kleinem Katechismus. Und keinen Deut weniger irre benahmen sich diejenigen, die mit großen blauen Augen so taten, als ob Deutschland 1945 in einem post-nationalen Kosmopolistan aufgegangen wäre, in einer Art Hybridwesen aus „Ode an die Freude“ und Polyrhythmen aus dem Trommelkurs. Im wirklichen Leben hat es noch nicht einmal zu trivialer binärer Nationalität gereicht.

 

Die Religionen jedenfalls sind weder verscheucht noch vernichtet. Sie sind nicht im prosaisch Säkularen verschwunden, das Christentum nicht, der Islam nicht, das Subsidiaritätsprinzip nicht, die Scharia nicht. Und die Konfliktpotenziale, die mit der Pluralität von Religionen einhergehen – wenn es um Geschlechteridentitäten, Feiertage, Essgewohnheiten, Sexualität, Reinheits- und Unreinheitsvorstellungen geht – sind genauso wenig verschwunden. Man kommt ihnen nicht bei, indem man sie leugnet und ignoriert, und noch viel weniger, indem man paranoiden Vernichtungs- und Liquidierungsphantasien nachhängt. Das verkauft sich zwar blendend, wie die Auslagen in den Bahnhofskiosken zeigen, hat aber den Nachteil der Realitätsverleugnung und des billigen Obskurantismus.

Konflikten kommt nur dann bei, wenn man ihre Gegenstände, ihre Spieleinsätze und ihre Logik zur Sprache bringt. Am besten zur poetischen Sprache. Anders als die Fachsprache der Theologen, Juristen, Philologen, Sozial- und Politikwissenschaftler kann die literarische Sprache Ambivalenzen, Zerrissenheiten, Unsicherheiten und Hemmungen, die Ungereimtheiten und Schizophrenien des Alltags, ohne Zwang zur begrifflichen Konsistenz, unmittelbar darstellen. Sie kann Szenen und Figuren beschreiben, die von widersprüchlichen normativen Ansprüchen, von unterschiedlichen Familien- und Herkunftserzählungen, von Paradoxien und wüsten Wünschen durchquert werden. Dabei muss sie keine Lösungsvorschläge machen, und sie unterliegt auch nicht der diplomatisch strategischen Vorsicht repräsentativer Rede, sei es im Namen einer Religionsgemeinschaft oder eines Staates. Sie kann auf die Scheidung von Ihr und Wir, von Innen und Außen verzichten, Identitäts-Durchlässigkeiten und –Brüche zugestehen. Was der repräsentativen Rede untersagt ist – offene Wut, Invektiven, Hassausbrüche – kann die literarisch-poetische Rede delirant benennen. Der Schriftsteller reißt nämlich, wie der Philosoph Gilles Deleuze einmal formulierte, „im Prozess des Schreibens die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus“; er „bohrt Löcher in die Sprache, um zu sehen, was dahinter hockt“; er kann etwas zu sehen und zu hören geben, was man sich bislang nicht vorstellen konnte, weil die Syntax dafür fehlte.

Er kann zum Beispiel, wie Feridun Zaimoglu, ein Syntagma wie das folgende in die Welt setzen und die Rede des zweiundzwanzigjährigen, arbeitslosen Hüdaver in den deutschen Literaturkanon katapultieren: „Deutsches land is ne salzige puffmutti, da fall ich schon allererst mit der tür ins knusperhaus, […] und so isses hier vor ort, dass alles und jedes wie vom herrn geschickt auf begehr und verlangen drückt, und is man schwach geworden und nimmt ne handvoll süßprobe, hat’s den macker schon unendlich erwischt, weil’s anfang is vonner liederlichen schlimmansteckung.“

Für ein Forschungskolleg, das nach der Präsenz religiöser Ordnungsmodelle in der Moderne fragt, sind solche Sätze wesentlich ergiebiger als alle vorhersehbaren Absichtserklärungen und Statements der Islamkonferenz. Und zwar deswegen, weil sie eine Subjektivität mitsamt ihren Verführungsängsten, Abwehrgesten, Ekelgefühlen und Doppeldeutigkeiten zur Sprache bringen, die in den gegebenen Institutionen nicht vorgesehen und nicht sagbar ist und deren Konfliktlinien allererst noch definiert werden müssen. Anders gesagt, literarische Texte können vorab bereits eine Realität beschreiben, für die in der Welt des Rechts, der Politik, der Theologie und der Soziologie die Begriffe fehlen. 

„La poésie sera en avant“, sagte Rimbaud. Das heißt, sie kann eine Wahrheit sagen, die in den offiziellen Kategorien – deutsch, türkisch, muslimisch, christlich, geistlich, weltlich – noch nicht benennbar ist, oder wenn, dann nur mit dem Verlegenheits-Präfix „post“: post-modern, post-demokratisch, post-religiös, post-säkular, post-national, post-dies, post-das. Da heißt meistens nur: Wir wissen es nicht so genau und finden unsere Ignoranz außerdem super-chic. Genau deswegen aber brauchen wir die Dichter, die uns unser Nicht-Wissen um die Ohren schlagen; die es zu sehen und zu hören geben – eine Wirklichkeit, die schon da ist, deren Logik wir zu denken und für die wir Konzepte zu erfinden haben.

 

Impressum - Datenschutz - Kontakt