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„Alles zerstückt und geopfert, den Gott des Profits zu erweichen!“ - Zur religiösen Signatur des Kapitalismus

Die Motive der Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem und an der Industrialisierung, die seit dem frühen 19. Jahrhundert sozial und politisch virulent wird, sind moralischer und normativer Natur. Angeprangert werden: ungleiche Verteilung des Reichtums, Ausbeutung, Verdinglichung, Prostitution, Maßlosigkeit, Gier, Habsucht, Geiz, Zynismus, Gewalttätigkeit, Egoismus, Auflösung von Gesellschaftszusammenhängen. Dementsprechend werden die kapitalistischen Eigentums-, Produktions- und Konsumtionsstrukturen angeklagt, systematisch eine ‚verkehrte Welt’ ins Werk zu setzen.

Die Kritik der verkehrten, kapitalistischen Welt beruft sich ihrerseits auf eine ‚wahre Welt’, in der sich unschwer die religiöse Figur der erlösten Welt erkennen lässt: das Reich Gottes. Dem falschen Reich des kapitalistischen Elend steht die ausstehende, erst noch zu verwirklichende Welt der tatsächlich geglückten und gerechten Verhältnisse gegenüber, an der die defiziente Gegenwart gemessen und von der aus sie verurteilt wird.

Wenn in der linkshegelianischen Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts ein Gespenst umgeht, so ist es zweifellos das der Religion und ihrer moralischen Werte. Das verlorene und versprochene Paradies bildet das – unvorstellbare, messianische – Gegenbild zur verkehrten, irdischen Gegenwart, die im Moment der Kritik fortwährend auf die kommende, erlöste Welt bezogen wird.
Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts verwirft die Religion nicht vulgäratheistisch, sondern versucht den kategorialen Riss zwischen wahrer und verkehrter, erlöster und unerlöster Welt, Jenseits und Diesseits aufzuheben, und zwar im fortschreitenden Prozess der Geschichte. Die Aufhebung ist nicht mehr delegiert an einen göttlichen Messias, sondern ist der Menschheit und der kommenden anderen Ökonomie aufgegeben, sofern die Menschengattung als Produzent aller religiösen Vorstellungen figuriert, einschließlich der Idee der Erlösung.

Die Theologie, sofern sie eine transzendente göttliche Wirklichkeit behauptet, gerät damit zur obsoleten religiösen Ideologie, zugleich Ausdruck und Instrument der Entfremdung innerhalb der realen Welt, das heißt, innerhalb der geschichtlichen Welt der Produktion, der Güter, der Produktionsverhältnisse, des Reichtums, der Institutionen. Wenn die Menschen in ihr leiden und auf Erlösung hoffen müssen, dann weil sie tatsächlich ein bedürftiges Jammertal ist. Die (Schein-)Welt der Religion, so Marx, protestiert gegen dieses Tal des Jammers, perpetuiert es aber auch, sofern sie das Diesseits als (erb-)sündige Welt in seiner Mangelhaftigkeit rechtfertigt und auf ein unerreichbares Jenseits bezieht. Die noch immer an den Himmel des imaginären Göttlichen verschleuderte Welt aber gilt es sich anzueignen.

Die Denunziation der kapitalistischen Ökonomie als einer prinzipiell ‚verkehrten Welt’ wird nur von ihrer religions- und theologiekritischen Motivation her einsichtig: als Projekt der Aufhebung des Elends und der Erlösungsbedürftigkeit der Menschen in der Geschichte, als Beseitigung falscher Imagination. Zugleich verweist sie auf das religiöse Moment, das den verkehrten ökonomischen Verhältnissen innewohnt: Rechtfertigung der Schuldverhältnisse, der Ungleichheit, des Mangels, der mühseligen Arbeit, aber auch die idolatrische Form der Warenwelt, die als innerweltliches Paradies zelebriert wird. Religion und Ökonomie sind nicht nur metaphorisch aufeinander abbildbar (das Markt- oder Dienstleistungsangebot der Religionen, Geld als „visible god“), sondern strukturelle Korrelate, welche die zugleich symbolische wie reale Dimension des „Mangels“ zu organisieren versuchen: keine Religion ohne (Heils-)Ökonomie, keine Ökonomie ohne legitimatorisch wirksame Religion.

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Das Kolloquium geht von der historischen Unabgegoltenheit und Unabgeschlossenheit der Fragestellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach der Korrelation zwischen Religion und Ökonomie aus. Der Baudelairesche Begriff der allgemeinen Prostitution hat ebenso wenig an Aktualität verloren wie Benjamins Beschreibung des Kapitalismus als „reine Kultreligion“. Zwar hat sich die politisch-ökonomische „Diesseitsreligion“ des russischen Realsozialismus – ein „Sommergewitter im Schatten der Weltbank, ein Mückentanz über Tartarengräbern“, wie Heiner Müller formulierte – 1990 von der Bühne der Geschichte verabschiedet. Nicht verabschiedet haben sich jedoch die nach wie vor relevanten Motive der Kapitalismuskritik: die systemischen Krisen, das Elend, der Hunger, das System maßloser Verschuldung, die Lemuren des Kapitals. Genauso wenig verabschiedet haben sich der Glaube an die „unsichtbare Hand“ des Markts, der Kult der vom Gebrauch ausgeschlossenen Waren, die Heilsversprechen des Konsumismus, der käufliche Himmel. Und so haben mit dem Triumphzug des Neoliberalismus zugleich auch die traditionellen Religionen eine spektakuläre ‚Rückkehr’ in politicis gefeiert.

Ausgehend von den skizzierten Zusammenhängen ist deswegen erneut zu fragen

  • nach den religiösen und theologischen Figurationen der Ökonomiekritik im 19. und 20. Jahrhundert (Messianismus, Kommunismus als Realisierung des Gottesreichs, Divinisierung des Menschen, Herstellung perfekter sozialer Gerechtigkeit)
  • nach dem intrinsischen Zusammenhang zwischen Religion und Ökonomie (Tausch, Zirkulation der Schulden, Arbeitsethik, Gerechtigkeit)
  • nach der Bedeutung und Tragfähigkeit der Säkularisierung angesichts der religiösen Implikationen sowohl der kapitalistischen Ökonomie als auch ihrer sozialistischen Kritik
  • nach der Bedeutung des Sakralen und Profanen in der bürgerlichen Moderne, in der zum einen gilt: „Alles Heilige wird entweiht“, in der zum anderen aber auch das Heilige in Gestalt des „Fetischs“ und der ausgestellten Waren ständig wiederkehrt
  • nach der Religiosität der kommunistischen Bewegung, ihrer Heilserwartungen, politischen Kulte und Liturgien, aber auch nach den unaufhörlichen Liturgien der Marktgesellschaften
  • nach der Notwendigkeit oder Nicht-Notwendigkeit religiöser Begründungsmuster in der Bestimmung „sozialer Gerechtigkeit“.

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Das umrissene Themenfeld lässt sich weder historisch noch systematisch auf einer Tagung abarbeiten. Die drei sachlichen Schwerpunkte, die wir deswegen setzen wollen, sind:

  1. Figuren des Heils und der Erlösung, des Bösen und der Verdammnis in der (Kritik der) kapitalistischen Moderne
  2. Ökonomien des Opfers, des Verzichts und der Entsagung
  3. Begründungsmodelle und Praktiken sozialer Gerechtigkeit

Die Schwerpunkte sollen nicht allein anhand theoretischer (Marx, Weber, Benjamin, Negt/Kluge, Agamben u.a.), sondern vor allem auch anhand literarischer Texte verhandelt werden (Shakespeare, Goethe, Balzac, Baudelaire, Flaubert, Henry James, Gottfried Keller, Richard Wagner, Brecht, Kluge, Heiner Müller, u.a.). Es geht darum, die religiöse Signatur in den Diskussionen um ökonomische Sachverhalte wieder sichtbar zu machen – eine Signatur, die gerade in den literarischen Texten, auf der konfliktuellen Bruchlinie zwischen Heteronomie und Autonomie, Kunstwerk und Ware, heiligem und profanem Text, immer wieder dargestellt und verhandelt worden ist.

 

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